Als sie so am Bahnhof saß überkam sie der Gedanke an Flucht. Wäre es nicht wunderbar einfach in einen x-beliebigen Zug zu steigen und wegzufahren? Egal wohin? Sie wusste nicht einmal genau wovor sie eigentlich flüchten wollte. War es die Stadt, die ihr nicht das brachte was sie sich erwartet und erhofft hatte vor der sie flüchten wollte? Oder war es die Angst vor einer weiteren Niederlage, von denen sie schon so viele hatte ertragen müssen? Oder wollte sie nicht doch lieber vor sich selbst davonlaufen?
Die Züge fuhren in die Bahnsteige ein und fuhren weiter. Stumm beobachtete sie das rege Treiben am Bahnhof. Viele Leute umarmten sich. Einige von ihnen hatten Freudentränen in den Augen während sie die Ankommenden begrüßten, andere hatten traurige Gesichter als sie die Abfahrenden verabschiedeten. Keiner würde sie begrüßen wenn sie in Liverpool ankam und genauso wenig war jetzt jemand gekommen sie von London zu verabschieden. Weder hier noch dort würde es jemanden auffallen, dass sie da ist oder eben nicht. Sie kehrte an den Schalter zurück. „Entschuldigung? Der nächste abfahrende Zug… wo fährt der hin?“, fragte sie die Schalterdame.
Wenige Minuten später stand sie mit einem neuen Ticket an einem neuen Bahnsteig und wartete auf ihren neuen Zug. Kurze Zeit später stieg sie auch schon ein. Der Zug war ziemlich voll und so setzte sie sich gegenüber eines ziemlich gut aussehenden jungen Mannes. Er lächelte freundlich und begrüßte sie mit einem fröhlichen „Hallo“. Sie war mies gelaunt und wünschte sich eigentlich nur Ruhe, also nickte sie ihm nur zu. Der Zug rollte an und sie fuhren los. Sie blickte durchs Abteil und entdeckte ein altes Ehepaar neben ihr sitzen. Die beiden tuschelten, kicherten und hielten Händchen. Hin und wieder küssten sie sich auch. Die Szene war so herzerwärmend, dass sie nicht wegschauen konnte. „Toll oder?“, fragte der junge Mann ihr gegenüber. Etwas irritiert blickte sie ihn an. „Naja, dass die beiden sich in dem Alter und nach all der Zeit immer noch so lieben. Muss ein großartiges Gefühl sein, meinen Sie nicht?“ Da sie eigentlich nicht reden wollte nickte sie erneut. „John.“ „Bitte?“ „Ich hab‘ mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße John.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Als sie sie schüttelte antwortete sie: „Angenehm.“ „Und Sie?“ „Pruedence.“ Er lächelte und sagte: „Freut mich sehr!“ Sein Lächeln beeindruckte sie. Es war unglaublich ehrlich und schien wirklich von Herzen zu kommen. Und zu ihrem Bedauern war es ansteckend. So saß sie ihm lächelnd gegenüber obwohl sie eigentlich schmollen wollte. Schnell drehte sie ihren Kopf von ihm weg und schaute aus dem Fenster. Das Lächeln in ihrem Gesicht verschwand genauso schnell wie es gekommen war. „Schon mal in Chesterfield gewesen?“, fragte er in die Stille. Sie schüttelte den Kopf ohne ihren Blick vom Fenster abzuwenden. Aus den Augenwinkeln sah sie ihn nicken. Als er erneut Luft holte um etwas zu sagen unterbrach sie ihn prompt: „Es tut mir leid, aber ich bin nicht für Smalltalk aufgelegt!“ Er wirkte weder perplex noch erstaunt, er lächelte einfach nur weiter und meinte nach ein paar Augenblicken: „Ja, das dachte ich mir schon. Was hat Ihnen denn so den Tag verdorben?“ Eigentlich wollte sie ihn jetzt anbrüllen und fragen was ihn das denn bitte anginge, aber seine blauen Augen fesselten sie und aus einem ihr unerklärlichen Grund wollte sie ihm alles was ihr am Herzen lag erzählen. „Ich bin auf der Flucht!“ Er zog eine Braue hoch und fragte: „Wovor?“ „Vor mir und all meinem Scheiß der mich wie mein Schatten verfolgt!“, schmetterte sie ihm entgegen. Sobald die Worte ihre Lippen verließen und das Gesprochene wie ein lautes Echo in ihren Ohren dröhnte lief sie rot an. Es war ihr furchtbar peinlich, dass sie ihm ihre Probleme entgegen brüllte und ihr das nette Ehepaar von nebenan entsetze Blicke zuwarf. Doch er fing heftig an zu lachen und noch bevor sie sich darüber wundern konnte, musste sie mit ihm mit lachen. Sie musste so lachen, dass ihr sogar die Tränen kamen. Als das Lachen wieder leiser wurde schaute er aus dem Fenster. Es war keine besonders lange Fahrt. „Chesterfield ist gut geeignet wenn man sich verstecken will. Glauben Sie mir.“ Er zwinkerte ihr zu. „Auch auf der Flucht?“, fragte sie ihn und lächelte. „Ja, aber ich bin ein Gesetzloser!“ Wieder brachen sie in schallendes Gelächter aus. Er musterte Pruedence und meinte schließlich: „Entschuldige, jetzt habe ich dich zum Lachen gebracht und dabei wolltest du sicher nur nachdenklich im Zug sitzen und aus dem Fenster starren.“ Sie schmunzelte. „Ja, allerdings. Das wäre mein Plan gewesen.“ John nickte, beugte sich vor und flüsterte: „Das ist meine Spezialität. Pläne zu durchbrechen. Aber verrate es niemandem!“ Er legte einen Finger auf seine Lippen und lehnte sich wieder zurück. Sie schmunzelten beide und blickten schweigend aus dem Fenster. Wenige Minuten später schnappte John seine Sachen und sagte: „Wir müssen aussteigen!“ Sie nickte und packte ebenso ihre Sachen. Als sie aus dem Zug stiegen wuselten hunderte Leute um sie herum und drängten sich in Züge. Plötzlich, mitten in dem Getümmel blieb John stehen, nahm sanft ihren Kopf in seine Hände und küsste sie zärtlich. Seine Lippen waren weich, sein Atem ruhig und seine Hände sanft. Seine Art sie zu küssen war einfühlsam und bestimmend zugleich. So hatte sie einen Kuss noch nie erlebt. Als die Lippen sich wieder trennten, ließ sie die Augen noch für wenige Sekunden geschlossen. „Wenn das Schicksal es so will sehen wir uns wieder“, flüsterte er ihr ins Ohr. Als sie die Augen wieder öffnete war John schon unter der Menschenmasse verschwunden. Irritiert und aufgeregt stand sie still da. Sie wollte ihn wiedersehen und zwar sofort. Gerade als ihr der Gedanke kam, wie lächerlich es ist zu erwarten, jemanden, von dem man nur den Vornamen kannte, in einer Stadt die man nicht kannte wiederzusehen, griff sie in ihre Manteltasche und spürte, dass da etwas Neues war, was sie nicht da rein gesteckt hatte. Langsam zog sie es aus ihrer Manteltasche und da war sie: Eine Visitenkarte für ein Irish-Pub und auf der Rückseite eine Telefonnummer, John’s Name und eine kurze Nachricht: „Gib dem Schicksal einen Ruck! Ich bin jeden Donnerstagabend dort, wenn du mich wiedersehen willst.“
Hat dir mein Text gefallen?
Hinterlasse mir ein Kommentar oder schreib mir!
Antonia
Kategorien
Über mich
Ich bin Antonia.
Seit, naja eigentlich schon immer, schreibe ich Texte sämtlicher Art.
Immer schon sind mir Geschichten eingefallen die ich dann, sobald ich schreiben konnte, sofort niedergeschrieben habe. Ich freue mich diese Geschichten, Texte, Experimente oder was auch immer mir gerade einfällt mit euch zu teilen!
Schreibe einen Kommentar