Mai

Am 1. Mai, einem Feiertag, saßen wir oft im Garten zum Frühstücken. Oft oder manchmal, daran erinnere ich mich nicht. Es ist ja doch schon eine Weile her, und es liegt ja wohl auch im Auge des Betrachters, ob etwas oft oder manchmal passiert ist.
Woran ich mich aber sehr gut erinnere, ist das feuchte Gras unter meinen Füßen, das ich spürte, als wir den Tisch von der Terrasse in die Wiese zogen, um in der Sonne zu sitzen. Ich habe den Geruch noch in der Nase vom Frühling, der nasskalten Wiese und von den Blumen, die langsam anfingen, in Blüte zu stehen. Ich erinnere mich auch daran, dass wir oft zu Pfingsten draußen gefrühstückt haben. Die Kirschbaumblüten in ihrem schönen Zartrosa und die Blüten meines Apfelbaums in Weiß. Ich sage “mein” Apfelbaum, weil es der Baum ist, den mein Opa für mich gepflanzt hat, zu meiner Geburt. Ich erinnere mich an die Junikäfer, die in die bloßen Füße zwickten, während sie, von der Sonne geweckt, aus der Wiese rausflogen. Ich erinnere mich, wie ich in meinen kurzen Sachen noch leicht fror, während wir das Frühstück eindeckten, wohlwissend, dass es mir bald warm sein wird in der Sonne. Ich erinnere mich daran, wie Mama und ich die Frühstückssachen auf den Tisch luden und dann Oma und Opa dazu holten; sie wohnten ja im selben Haus. Papa war nicht dabei. Dazu muss man wissen, dass ich auf dem Land aufgewachsen bin, in Salzburg. Da ist es üblich, am Maifeiertag und zu Pfingsten “prangen” zu gehen. Eine christliche Tradition, die durch die Musikkapelle musikalisch unterstrichen wird. Zahlt sich aus, das zu googeln.
Und mein Papa war bei der Musikkapelle.

Aber zurück zum Frühstückstisch. Der war nun gedeckt, und an dem saßen wir zusammen. Ich erinnere mich daran, dass man die Trommeln und die Musik aus der Ferne, aus dem Ort heraus, hören konnte. Jeder Windzug trug die Klänge entweder fort oder brachte sie lauter ins Ohr. Man hörte die Salutschüsse der Schützen, ein dumpfer Knall, gefolgt von weiteren, fernen Klängen der Musik.
Spätestens jetzt wäre es gut, dieses Brauchtum gegoogelt zu haben.

Wenn ich meine Augen schließe und mich in die Erinnerung fallen lasse, dann höre ich sie immer noch, diese Klänge, sie sind weiter fort, fast nur ein Echo ihrer selbst. Ich spüre das Gras unter meinen Füßen, zwischen meinen Zehen, rieche den Frühling mit all seinen Düften und den Kaffee, spüre die Wärme der Sonne, die Geborgenheit der Situation. Ich sehe das alte Haus vor mir. Wie es da steht, groß, mächtig, eine ehemalige Frühstückspension, mit den blühenden Balkonblumen in den Blumentrögen. Ich sehe den hellblauen Himmel und meine Mama mit den Frühstückssachen bei der Haustüre rauskommen, vorbei an den Rosen, die unsere Terrasse umrandeten, bis sie auf der Wiese steht.

Heute sitze ich in meinem eigenen Garten vor dem Haus, das wir uns gekauft haben. Wir. Damit meine ich meinen Verlobten und mich.
Es ist ein kalter Maitag, trüb und bewölkt. Es ist keine Musik zu hören, nur Autos aus der Ferne, Nachbarn, die staubsaugen. Außer den Nachbarskindern, von weiter unten in der Straße, bin ich die Einzige, die draußen ist. Unter meinen Füßen spüre ich die Terrassensteine, und vor mir steht anstelle des Frühstücks nur eine Kaffeetasse und mein Notizbuch auf dem Tisch. Und da kommt mir eines in den Sinn: Ein neues Kapitel hat gerade begonnen. Vielleicht noch nicht wahrnehmbar, vielleicht noch nicht so, dass es in der Erinnerung abgespeichert wird. Es liegt wie der erste Entwurf noch beim Autor, aber es hat bereits begonnen.

Im September heiraten wir, bezeugen also vor Familie und Freunden, dass wir, ab dann auch rechtlich gesehen, eine eigene kleine Familie sind.
Das alte Haus wurde verkauft und renoviert. Es ist kaum wiederzuerkennen. Die charmante ehemalige Frühstückspension ist einem modernen Bau in Weiß, Grau und Schwarz gewichen. Das klingt bitter. Das sollte es aber nicht. Es war richtig und wichtig, dass es verkauft wurde, und auch wichtig und richtig, dass es nun ganz anders aussieht. Das macht es leichter, die Erinnerungen zu wahren. Und es brachte die Chance auf ein neues, wunderschönes Haus für meine Eltern. Die Erfüllung des Wunsches nach dem Eigenheim, nach so vielen Jahren.

Wer weiß, wie der nächste 1. Mai sein wird. Vielleicht scheint die Sonne, vielleicht ist es warm, vielleicht schwelge ich wieder in Erinnerungen oder bin zu beschäftigt daran zu denken, weil ich gerade neue Erinnerungen mit meinem Mann schaffe. Vielleicht frühstücken wir auf der einen oder anderen Terrasse oder genießen einen Kurzurlaub. Egal, wie es wird, es wird etwas Neues und Schönes sein. Ein ganz neues Kapitel wird dem Buch hinzugefügt. Und immer, wenn man möchte, blättert man zurück und verliert sich ein wenig in den alten Geschichten. So lange, bis man umblättert und das weiße leere Blatt sieht, bereit für ein neues Kapitel.

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Antonia

Über mich

Ich bin Antonia.

Seit, naja eigentlich schon immer, schreibe ich Texte sämtlicher Art.

Immer schon sind mir Geschichten eingefallen die ich dann, sobald ich schreiben konnte, sofort niedergeschrieben habe. Ich freue mich diese Geschichten, Texte, Experimente oder was auch immer mir gerade einfällt mit euch zu teilen!